Symbolbild für die Rubrik #nachgefragt. Durch Klick aufs Bild gelangen Sie zum entsprechenden Beitrag "Titel des Beitrags".

Im Gespräch mit Elias Knell, Geschäftsführer des Deutschen Vereins für Blinde und Sehbehinderte in Studium und Beruf (DVBS), und Christian Axnick, Mitarbeiter des DVBS, ging es um das Thema „Barrierefreie Weiterbildung“ und über die Arbeit des DVBS sowie über Herausforderungen und Lösungsansätze für eine barrierefreie Weiterbildungslandschaft.

forum wbv: Wie definieren Sie barrierefreie Weiterbildung und warum ist diese wichtig?

Herr Axnick: Wir legen als DVBS einen Fokus auf Barrierefreiheit insbesondere für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen, die im Beruf stehen und sich weiterbilden wollen. Es geht uns hier zunächst einmal nicht so sehr um räumliche Barrierefreiheit, sondern um digitale Barrierefreiheit, die wir im Zusammenhang mit Weiterbildung durchaus ein bisschen umfassender betrachten wollen. Ein Beispiel dafür ist ein Ergebnis aus dem Projekt Inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren: Das Anforderungsprofil an barrierefreie Weiterbildung mit blinden und sehbehinderten Menschen. Da ist definiert, was gegeben sein muss, damit sehbeeinträchtigte Menschen selbstbestimmt und selbständig an einer Bildungsveranstaltung teilnehmen können. Das umfasst dann die verschiedenen Stadien einer Bildungsveranstaltung: Wo bekomme ich Informationen zu den Weiterbildungen, wenn ich blind bin? Wie kann ich mich anmelden? Wie gehen die Dozent:innen mit mir um? Wie ist das Lehrmaterial aufbereitet? Wie sieht es mit Nachteilsausgleichen aus? Worauf muss auch der:die Veranstalter:in achten? Das ist im Anforderungsprofil zusammengefasst und steht allen Interessierten online zur Verfügung.

Herr Knell: Grundsätzlich zur Frage, wieso Barrierefreiheit in der Weiterbildung so relevant ist. Der DVBS wurde 1916 gegründet, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kriegsversehrte aus dem Krieg zurückkamen und ihr Augenlicht verloren hatten, aber natürlich in ihren Berufen weiterarbeiten wollten. Dieser Anspruch auf berufliche Entwicklung und berufliche Teilhabe wurde später glücklicherweise durch das Grundgesetz definiert. Artikel 3: keine Benachteiligung für Menschen mit Behinderung und das gilt natürlich insbesondere in Bezug auf den Beruf. Dementsprechend ist arbeiten können und arbeiten dürfen gesetzlich festgeschrieben und das Recht auf Teilhabe insbesondere durch die UN-Behindertenrechtskonvention nochmal unterstrichen. Es geht um eine selbstbestimmte Arbeit, in der man sich fortentwickeln kann. Das ist für uns als Verein der Selbstanspruch. In unserem Verein sind ausschließlich blinde und sehbehinderte Menschen engagiert, es gibt ein oder zwei Sehende, von etwa 1300 Mitgliedern. Das sind nicht nur Akademiker, sondern auch welche, die eine Ausbildung absolviert haben. Da sind Schüler dabei und auch Rentner und Pensionäre.

Herr Axnick: Zum Begriff Weiterbildung meinen wir allgemeine berufsspezifische Weiterbildung. Es geht nicht so sehr um die behinderungsspezifischen Inhalte, sondern, es ist wichtig, mit sehenden Kolleg:innen gemeinsam an einer berufsspezifischen Weiterbildung teilnehmen zu können. Wenn man da gesonderte Veranstaltungen macht, fällt man schon wieder raus. Genau das ist es, was wir nicht wollen.

forum wbv: Wie genau unterstützen Sie sehbehinderte bzw. -beeinträchtigte Menschen auf dem Weg ins Studium und im Beruf? Welchen Herausforderungen stehen die Menschen aktuell gegenüber?

Herr Knell: Wir haben im Verein ein vielfältiges Programm. Es gibt zum Beispiel ein intensives Seminarwesen. Wir versuchen regelmäßig Projekte zu starten und wir machen Öffentlichkeitsarbeit, um auf unser Anliegen aufmerksam zu machen. Wir machen in unserer Geschäftsstelle erstmalig eine Eingangsberatung. Dabei können Mitglieder, aber auch Nichtmitglieder, bei uns Informationen erhalten, an wen sie sich wenden und wie sich weiterentwickeln können. Darüber hinaus gibt es Mentoringprogramme, wie TriTeam. Dort versuchen wir Berufsanfänger:innen oder Studienabsolvent:innen eine:n berufserfahrene:n, berufsspezifische:n Mentor:in an die Seite zu geben. Die Mentor:innen und Mentees tauschen sich über ein Jahr aus und stecken gemeinsam Ziele für die berufliche Entwicklung fest. Wir verstehen uns als Kompetenznetzwerk und als Expert:innen in eigener Sache. Stellen Sie sich vor: Ich bin blinder Berufsanfänger und gehe in die Bewerbungsgespräche. Wie verhalte ich mich? Ich habe ja in einem Bewerbungsgespräch andere Kommunikationsbedürfnisse. Ich muss mir erklären lassen, wer mir gegenübersitzt, wie es hier aussieht und wo ich bin. Ich muss aktiv Informationen einfordern gegenüber einer Person, die unter Umständen mit blinden oder sehbehinderten Menschen noch nie zu tun hatte. Gleichzeitig will ich von ihr aber einen Job. Ich muss sehr aktiv gegenüber einem:einer zukünftigen Vorgesetzten meine Bedürfnisse schon vor der Einstellung einfordern und das ist natürlich insbesondere für Berufsanfänger:innen keine leichte Situation. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die gesamte berufliche Entwicklung, und da versuchen wir zu beraten. Darüber hinaus haben wir in unseren Verein eine zweigliedrige Struktur. Der eine Strang ist die regionale Gliederung, der andere orientiert sich an den Berufsgruppen. Das sind die sogenannten Fachgruppen.

Herr Axnick: Die Fachgruppen organisieren Seminare anhand ihrer beruflichen Richtung, in denen den Mitgliedern im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Beeinträchtigung Kenntnisse vermittelt werden zu bestimmten Fragen, die in diesem Beruf auftauchen. Was in diesen Berufsfeldern an Herausforderungen auftaucht, wird dort bearbeitet. Das geht dann manchmal auch über in größere Veranstaltungen, z. B. Fachtagungen. 2021 hatten wir z.B. eine größere Tagung zur Arbeitsassistenz. Natürlich braucht ein Arbeitsplatz eines blinden oder sehbehinderten Menschen auch eine bestimmte Hilfsmittelausstattung, und auch da können wir beratend zur Seite stehen.

forum wbv: Welche speziellen Kompetenzen sind denn für das Beratungspersonal erforderlich, um mit den sehbehinderten und blinden Menschen effektiv zu arbeiten und sie zu unterstützen?

Herr Axnick: Dazu haben wir im Projekt agnes@work einen umfangreichen Leitfaden „Beratung zu beruflicher Weiterbildung und Teilhabe blinder und sehbehinderter Menschen“ erarbeitet: Wie ist das methodische Vorgehen? Was sind konkrete Fragen zur Antragstellung von Hilfsmitteln, zur Finanzierung von Weiterbildung? Er steht als barrierefreies PDF zur Verfügung.

forum wbv: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie den Fokus auf digitale Barrierefreiheit legen. Welche Rolle spielen denn die technologischen Innovationen für eine barrierefreie Weiterbildung?

Herr Axnick: Digitale Technik eröffnet natürlich einerseits sehr große Chancen. Banales Beispiel: ein Screenreader, der den Inhalt einer Website oder eines PDFs vorliest. Sie könnten jetzt sagen: „Okay, dafür könnte ich doch auch eine Assistenz haben“. Diese Assistenz wird allerdings sehr wahrscheinlich nicht um 23:30 Uhr zur Verfügung stehen, wenn Sie vielleicht mal gerade etwas nachschlagen wollen. Das ist ein ganz großer Fortschritt in Richtung Selbstbestimmung und Selbstorganisierung. Das Problem, dass damit einhergeht, ist natürlich, dass diese Webseiten, die Webanwendungen, die PDFs auch entsprechend aufgearbeitet und den technischen Kriterien der Barrierefreiheit entsprechen müssen. Da gibt es zwar international gültige Regelwerke. In dem erwähnten Anforderungsprofil für barrierefreie Weiterbildung haben wir diese Guidelines speziell auf Bildungsveranstaltungen angewandt. Ein weiterer Punkt, der uns immer wieder beschäftigt, ist die Barrierefreiheit von PDFs. Also wie müssen sie aufgebaut sein, damit ein Screenreader das sinnvoll vorlesen kann? Auch dazu haben wir eine Handreichung erstellt.

Herr Knell: Das sind im beruflichen Alltag aber auch ganz profane Dinge, die digital sind, aber nicht barrierefrei. Also ich sag mal, man geht ins Gebäude rein und loggt sich mit einem Chip bei einer Schaltuhr ein und dann steht dort auf dem nicht sprachausgabebezogenen Screen die tägliche Zeit, die man noch zu leisten hat und bestenfalls funktioniert es nur per Touchscreen. Das sind ganz grundlegende Dinge, bei denen Hürden auftauchen können, bis hin zum Weiterbildungszertifikat, das ausgedruckt und unterschrieben wird. Wenn man sich ein bisschen tiefer mit der Materie befasst, dann fällt einem sehr viel auf, wo man denkt: „Wie hätte der:die Kolleg:in mit einer Sehbehinderung das jetzt gelöst?“. Wir sehen an der Stelle die technische Entwicklung grundsätzlich sehr positiv. Das ist für viele Kolleg:innen oder auch Vereinsmitglieder ein Quantensprung in Bezug auf ihre Arbeitsfähigkeit, dass sozusagen Telearbeit, Homeoffice und auch eben virtuelle Konferenzen eher zum Standard oder zur Normalität geworden sind. Das hat für viele Entwicklungsmöglichkeiten gesorgt.

Herr Axnick: Aber auch da stellt sich dann die Frage, wenn ich jetzt ein virtuelles Meeting durchführe, welches Videokonferenzsystem benutze ich? Wie ist da die Barrierefreiheit des Systems? Welche Fähigkeiten muss ich auch bei den blinden und sehbehinderten Teilnehmer:innen voraussetzen oder ihnen vermitteln, damit sie daran teilnehmen können? Das sind alles Fragen, die da dranhängen und wo wir versuchen zu beraten und darauf aufmerksam zu machen, dass das am besten von vornherein mit bedacht wird. Das wäre überhaupt der generelle Ratschlag, Barrierefreiheit möglichst ganz zu Anfang mitzudenken.

forum wbv: Was sind da Ihrer Meinung nach den nächsten Schritten, um eine barrierefreie Weiterbildung weiter zu verbessern und noch zugänglicher zu machen?

Herr Axnick: Es fängt an mit den Informationen über die Bildungsveranstaltung. Also wenn sie nur in Druckform vorliegen, muss ich mir Gedanken darüber machen, wie ich sie zum Beispiel digitalisieren kann. Dann muss ich mir meine Lehrmaterialien anschauen: Womit arbeite ich? Wenn ich nur mit Flipcharts arbeite, dann müsste ich mir eine Alternative überlegen. Ich müsste dem:der Dozent:in sagen: „Du musst, wenn du mit Flipcharts arbeitest, bitte auch wirklich alles verbalisieren, damit alle Teilnehmer:innen das nachvollziehen können“. Also das alles frühzeitig auf dem Schirm zu haben und dann auch rechtzeitig anzugehen, hilft schon sehr viel weiter.

forum wbv: Welche Rolle spielt dabei auch der:die Arbeitgeber:in?

Herr Axnick: Eine entscheidende Rolle. Der muss seinen Mitarbeiter:innen ja Weiterbildungen ermöglichen und sollte sich auch klar darüber sein, dass das dann nicht spezielle Weiterbildungen für seine behinderten Beschäftigten sind, sondern solche, von denen alle Kolleg:innen gleichzeitig und gleichmäßig profitieren. Dann muss er sich natürlich mit den Beschäftigten mit Behinderung auseinandersetzen, die Bedarfe in Erfahrung bringen und schauen, wie das in einer bestimmten Bildungsveranstaltung auf den Weg zu bringen ist. Die konkreten Anforderungen sind vielleicht gar nicht so dramatisch, aber man muss das auf dem Schirm haben und das dann auch aktiv angehen. Und es wäre gut, Arbeitgeber:innen hätten eine gewisse Offenheit und ein gewisses Gespür, denn auch für den:die beeinträchtigte:n Kolleg:in ist es eine gewisse Herausforderung, immer wieder seine Bedarfe formulieren zu müssen.

Herr Knell: Es stellt sich auch die Frage: Wie erhalte ich auch die Arbeitskraft meiner bestehenden Belegschaft? Das ist auch in Bezug auf den Fachkräftemangel ein relevantes Problem. Wenn Mitarbeiter:innen, eine Kompetenz im Betrieb haben, und plötzlich schwerbehindert sind, sollte sich nicht die Frage stellen: Jetzt muss ich die Person behalten, wie kriege ich sie beschäftigt? Sondern: wie kann ich deren Kompetenz weiterhin nutzen? Und das ist eben auch eine Frage, wofür man Arbeitgeber:innen sensibilisieren muss.

Herr Axnick: Wenn es darum geht auch, ältere Mitarbeiter:innen zu halten, und die Wahrscheinlichkeit von Augenerkrankungen oder Sehbeeinträchtigungen steigt natürlich mit zunehmendem Alter, ist es günstig, dass es auch Fördermöglichkeiten gibt. Auf der Fachtagung zur Arbeitsassistenz wurde gesagt: Der rechtliche Rahmen ist eigentlich gar nicht so schlecht, die Umsetzung ist das Problem. Es müsste übersichtlicher und schneller sein. Das wäre nützlich, um dann auch den Arbeitgeber:innen sagen zu können: „Ihr müsst jetzt nicht in Panik verfallen, wenn ihr da einen älteren, erfahrenen Mitarbeiter habt, den ihr auch halten wollt und der sieht auf einmal nichts mehr“. Da gibt es Fördermöglichkeiten, nur die müssen dann auch zeitnah greifen.

forum wbv: Abschließend möchten wir noch wissen, wie können Weiterbildungsverbünde dazu beitragen, dass Weiterbildungsangebote barrierefrei gestaltet werden?

Herr Axnick: Indem sie die jeweiligen Teilnehmer:innen der Verbünde auf dieses Thema aufmerksam machen oder selber berücksichtigen und sagen: „Es gehört dazu, dieses Thema von Anfang an mit zu bedenken“. Es ist nicht der Anspruch zu sagen: „Morgen ist das alles super“, aber zu sagen: „Das Thema ist da und wir sind dafür offen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, um Bildungsveranstaltungen anzupassen“. Das sollte eigentlich ein Querschnittsthema sein. Also nicht nur dann auftauchen, wenn ein Bildungsveranstalter eventuell noch voller Panik sagt: „Um Gottes Willen, jetzt sitzt mir da eine blinde Teilnehmerin in der Veranstaltung. Was mache ich denn mit ihr?“, sondern dass gewissermaßen schon mal eine allgemeine Basis gelegt wird und ein Verständnis davon da ist, dass Barrierefreiheit dazugehört. Über die konkrete Ausgestaltung kann man sich dann immer noch in der Beratung zu konkreten Fällen unterhalten.

Herr Knell: Wir stehen für sowas auch als Referenten zur Verfügung. Wenn es Weiterbildungsveranstaltungen gibt, kann man uns buchen und unsere sonstigen Beratungsdienstleistungen beanspruchen, beispielsweise um eine digitale Weiterbildungsplattform zu etablieren. Wenn es am Ende darum geht: „Ich habe hier ein Teilnahmezertifikat als PDF, wie mache ich das denn barrierefrei?“, kann man uns auch damit beauftragen oder wenn es ein Weiterbildungselement gibt, was nicht verschriftlicht werden kann, digital, sondern was nur handschriftlich existiert, können wir es auch als digitale Datei zur Verfügung stellen.

forum wbv: Sie hatten vorhin schon ein paar gute Praxis-Beispiele angesprochen, wie es gehen kann und was es braucht. Was könnte man Weiterbildungsverbünden als gute Praxisbeispiele nochmal mitgeben?

Herr Axnick: Ein konkretes Beispiel wäre die Weiterbildungsplattform, die wir in dem genannten Projekt „Inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren“ aufgesetzt haben. Das sind jetzt nicht viele Angebote, ca. 140, aber die kann man sich angucken, um zu sehen, wie denn so ein Bildungsangebot, das die Kriterien aus dem Anforderungsprofil entspricht, konkret aussehen kann.

forum wbv: Ganz herzlichen Dank!

Weiterführende Links:

Website DVBS: https://www.dvbs-online.de/

Weiterbildungsplattform: https://weiterbildung.dvbs-online.de

Anforderungen an barrierefreie Weiterbildungen mit blinden und sehbehinderten Menschen https://www.agnes-at-work.de/wp-content/uploads/2022/03/bf_Anforderungen-an-barrierefreie-Weiterbildungen-mit-blinden-und-sehbehinderten-Menschen.pdf

Handreichungen: Handreichungen – agnes@work (agnes-at-work.de)

Projekt Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige (agnes@work): https://www.agnes-at-work.de/

Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb)